Rede im Bundesrat zum TOP „Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ am 18.11.2020
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen im Saal, aber ich richte mich in dem, was ich sagen möchte, insbesondere auch an diejenigen, die dieser Debatte im Livestream folgen oder sie später in den sozialen Netzwerken nachverfolgen werden.
Der Corona-Virus stellt viele unserer bisherigen Gewissheiten auf eine harte Probe. Aus vielen Gesprächen mit Freundinnen und Freunden, Bekannten, auch Verwandten stelle ich fest, dass unglaublich viele Menschen Angst haben, weil er unserem Bedürfnis nach Sicherheit, dem Bedürfnis, wenn diese Sicherheit in Frage gestellt wird, genau zu wissen, wer der Verursacher ist, wo das herkommt, wann es zu Ende sein wird, was man genau dagegen tun kann, nicht Rechnung trägt, sondern er provoziert Fragen.
Wir können quasi live verfolgen, wie Wissenschaft auf eine neue Herausforderung wissenschaftlich tätig ist: Sie stellt Hypothesen auf. Den Hypothesen wird widersprochen. Es kommen neue Erkenntnisse hinzu. Es werden Daten gesammelt. Und das alles verfolgen wir. Wir sind Teil dieses wissenschaftlichen Prozesses, weil wir alle vulnerabel sind, weil wir alle von diesem Virus betroffen sein können. Das macht uns unsicher. Und das prägt die öffentliche Diskussion. Es prägt die private Diskussion. Das zerreißt Familien. Es versetzt Freundeskreise, Kollegenkreise in totalen Stress. Und das zeigt, wie unglaublich angespannt die Diskussion in den sozialen Netzwerken ist.
Deshalb ist das Gespräch, das wir führen, wichtig. Wichtig ist auch das Gespräch mit denjenigen, die demonstrieren. Denn allein die Tatsache, dass demonstriert wird, ist Ausdruck davon – darauf werde ich gleich noch mal eingehen –, dass wir weit davon entfernt sind, den Begriff der Diktatur auch nur ansatzweise berechtigt in unserer aktuellen Situation in den Mund zu nehmen. Wer über Diktaturen redet, der soll nach Weißrussland schauen, er kann in andere Länder schauen, er kann in unsere Geschichte schauen. Aber diejenigen, die heute auf der Straße sind, sind diejenigen, die ihre Position artikulieren, und mit ihnen muss auch das öffentliche Gespräch geführt werden. Das ist der Grund, warum ich mich auch hier gemeldet habe.
Ich habe gestern in einem kleinen Tweet von zwei Minuten erklärt, warum ich den Vorwurf, es würde sich bei diesem Bevölkerungsschutzgesetz um ein Ermächtigungsgesetz handeln, historisch falsch finde. Auch dazu werde ich gleich noch mal etwas sagen.
Ich bin gefragt worden – das ist auch berechtigt –, warum die Partei, der mein Ministerpräsident angehört, im Bundestag gegen dieses Gesetz stimmt und der Ministerpräsident, unsere rot-rot-grüne Koalition und die Landesregierung mich aufgefordert haben, als Vertreter des Freistaats Thüringen für dieses Gesetz zu stimmen.
Ministerpräsident Ramelow hat wahrnehmbar gefordert, dass das, was wir als Landesregierung, was die Bundesregierung tut, auf eine stärkere parlamentarische Grundlage gestellt wird.
Der Ministerpräsident hat deutlich gemacht – in Übereinstimmung mit dem Bundestagspräsidenten und dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages; dem entspricht ein Gutachten, das der Wissenschaftliche Dienst des Landtags Rheinland-Pfalz herausgegeben hat –, dass die Generalklausel des Infektionsschutzgesetzes nicht dauerhaft die Grundlage unseres Agierens als Regierung in dieser Pandemie sein kann.
Hier im Bundesrat – und das ist der Unterschied zum Deutschen Bundestag, in dem es eine Opposition gibt und Regierungsfraktionen, die die Regierung stützen – sitzen keine Abgeordneten, die vom Volk gewählt sind, sofern nicht einzelne Landesregierungsmitglieder auch Landtagsabgeordnete sind, sondern der Bundesrat setzt sich aus den Vertreterinnen und Vertretern der Landesregierungen zusammen. Wenn wir heute über ein Gesetz abstimmen, das unsere eigenen Kompetenzen insoweit beschneidet, dass sie an die Legislative stärker abgegeben werden, dann kann man nicht als Mitglied einer Landesregierung, wenn man genau dieses Ziel verfolgt, diesem Gesetz nicht zustimmen. Es kann gute Gründe geben, warum eine Opposition im Deutschen Bundestag artikuliert, dass ihr dieses Gesetz nicht weit genug geht. Aber ich kann als jemand, der mit dem Ministerpräsidenten übereinstimmt, dass wir den Parlamenten – auch den Landesparlamenten – mehr Recht geben müssen, nicht guten Gewissens für den Freistaat Thüringen diesem Gesetz an dieser Stelle nicht zustimmen.
Das erklärt auch, warum wir hier natürlich Repräsentantinnen und Repräsentanten politischer Parteien sind, die Koalitionen und Regierungen bilden. Aber wir sind ein föderaler Bundesstaat, und dies ist die Kammer der Landesregierungen, und so stimmen wir ab.
Ich habe gesagt – und stehe dazu –, dass diese Klärung der Rechte zwischen Landesregierungen zu Gunsten der Rechte des Bundestages unverzichtbar ist. Ich sage aber bewusst „unverzichtbar“ und nicht „alternativlos“. Das hat einen Grund. Ich kann die Behauptung des politischen Betriebs, dass Entscheidungen alternativlos sind, schon deshalb nicht leiden, weil wir alle, die dies artikulieren, wissen, dass es nicht richtig ist. Es gibt immer eine Alternative. Der Punkt ist nur: Die Alternative muss deutlich machen, dass sie die bessere ist. Ich sehe tatsächlich keine bessere Alternative zu der Regelung, die wir hier treffen, unter dem Gesichtspunkt der Abgabe von Kompetenzen an die Parlamente.
Aber auch für dieses Gesetz gilt – insofern stimme ich dem, was Christoph Degenhart als Verfassungsrechtler heute im „Tagesspiegel“ gesagt hat, in Übereinstimmung mit manch anderen, und auch Argumenten, die von den demokratischen Parteien im Deutschen Bundestag aus der Opposition vorgetragen wurden; der FDP, der Partei Die Linke, auch Abgeordneten der Grünen, die im Bundestag heute nicht für dieses Gesetz gestimmt haben –: Der Bessere ist der Feind des Guten. Und natürlich wird auch dieses Gesetz angepasst werden. Aber wir wollen, dass es klarere Rechtsgrundlagen gibt, dass es klarere parlamentarische Kompetenzen gibt. Vor dem Hintergrund, dass der Senat in Bremen der Bürgerschaft einen Gesetzentwurf übermittelt hat, wo es um die Stärkung der Parlamentsrechte geht. Wir werden in unserer nächsten Kabinettsitzung genau die gleiche Diskussion führen, um unseren Landtag analog zum Bundestag mit mehr Kompetenzen in dieser Frage auszustatten. Insofern: Ich halte diesen Gesetzentwurf an dieser Stelle tatsächlich für unverzichtbar. Ja, natürlich gibt es Alternativen, aber ich halte sie nicht für besser. Auch deshalb kann man diesem Gesetz zustimmen.
Jetzt sind wir wieder bei diesem Punkt, dass Menschen artikulieren, es sei ein Ermächtigungsgesetz. Da gibt es einige, die sagen: Kann doch keiner sagen, das sei kein Ermächtigungsgesetz, der Begriff „Ermächtigung“ steht ja über 30 Mal drin! – Okay. Das zeugt davon, dass nicht ganz klar ist, was mit „Ermächtigungsgesetz“ gemeint ist. Deshalb für diejenigen, die dieser Debatte zuschauen, an dieser Stelle noch mal:
Das Ermächtigungsgesetz war das Gesetz, dem 288 Nationalsozialisten im Reichstag zugestimmt haben und mit dem die Gewaltenteilung in Deutschland aufgehoben wurde. 94 sozialdemokratische Abgeordnete haben gegen dieses Gesetz gestimmt. Die 81 Abgeordneten der KPD konnten dieses Gesetz nicht mehr ablehnen, sie waren nämlich entweder schon verhaftet oder auf der Flucht. Ein Gesetz, das die Gewaltenteilung aufhebt, trägt zu Recht den Namen Ermächtigungsgesetz.
Dieses Gesetz, das die Rechte des Parlaments stärkt, das Maßnahmen zeitlich befristet, das die Kontrollfähigkeit gegenüber der Regierung stärker macht, das sich im Zweifel auch – das ist bereits angekündigt – der gerichtlichen Untersuchung stellen muss, das möglicherweise aufgrund gerichtlicher Entscheidung korrigiert werden muss, das kann niemand ernsthaft als ein Ermächtigungsgesetz mit Verweis auf das Ermächtigungsgesetz der Nationalsozialisten bezeichnen. Wer dies tut, argumentiert ganz bewusst ahistorisch. Wer dies tut und heute Angela Merkel, unsere Bundeskanzlerin, mit Adolf Hitler vergleicht, der setzt Dinge gleich, weil er meint, dass es zum politischen Geschäft gehört, in einer Erregungsdemokratie Nicht-Vergleichbares miteinander zu vergleichen und den Eindruck zu erwecken, dass wir uns in einer Meinungsdiktatur befinden würden.
An dieser Stelle sage ich auch: Nicht alle, die heute vor dem Deutschen Bundestag demonstriert haben, bezeichne ich als Corona-Leugner, sondern es gibt darunter mit Sicherheit eine Reihe von Menschen, die tatsächlich Angst haben um unsere freiheitliche Grundordnung. Sie haben Angst, dass politische Akteure sozusagen Lust an der autoritären Versuchung bekommen. Das ist völlig berechtigt. Diese Debatte muss geführt werden. Wer mit dieser Position auf die Straße geht, ist das notwendige Korrektiv jeder politischen Entscheidung in unserer Demokratie.
Aber unter denjenigen, die heute demonstrieren, waren evidente Rechtsextreme, Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner. Wenn mir häufig vorgeworfen wird, ich würde alle in einen Topf werfen, sage ich: Ganz ehrlich, diejenigen, die mit demokratischer Grundüberzeugung Furcht haben, dass in der Corona-Situation etwas ins Rutschen gerät, was unsere freiheitlich demokratische Grundordnung in Frage stellen könnte, mit denen diskutiere ich gern. Der Punkt ist: Ich kann sie nicht mehr herausfinden in dieser Menge an Rechtsextremen und Corona-Leugnern, die auf der Straße sind. Insofern: Machen Sie sich erkennbar als Demokratinnen und Demokraten! Lassen Sie uns gemeinsam diskutieren. Aber zeigen Sie auch Ihre deutliche Differenz zu denjenigen, die Corona-Leugner, Rechtsextreme, Verschwörungstheoretiker sind. Ich schere nicht alle über einen Kamm, sondern es fällt mir schwer, sie zu differenzieren. Machen Sie sich als Demokratinnen und Demokraten erkennbar, indem Sie sich von denjenigen distanzieren, die ein billiges Geschäft zur Abschaffung unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung betreiben.
Als ich gestern diesen Zwei-Minuten-Tweet zum Thema, warum das Bevölkerungsschutzgesetz kein Ermächtigungsgesetz ist, abgesetzt habe, bekam ich unmittelbar danach einen Tweet mit der Drohung, mich vors Kriegsgericht zu stellen und abzuurteilen. Es wurde mir ein Brief geschickt, der darauf hinweist, dass meine Familie ausgewiesen wird, dass ich ins Lager kommen werde. Machen Sie, die Demokratinnen und Demokraten sind, sich erkennbar! Und distanzieren Sie sich von denjenigen, die meinen, dass der Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung darin besteht, andere vors Kriegsgericht stellen zu wollen. Das ist nämlich die Rhetorik der Nationalsozialisten und nicht derjenigen, die eine Demokratie schützen wollen.
Heute haben Menschen vor dem ARD- und ZDF-Gebäude gerufen: „Wir sind das Volk“. Ja, stimmt, sie sind Teil eines Volkes. Sie sind aber nicht die Mehrheit des Volkes. Warum stresst es mich, wenn sie rufen: „Wir sind das Volk“? Es ist völlig in Ordnung, dass gerufen wird: „Wir sind das Volk“. Aber diejenigen, die im September 1989 in einer Kirche in Leipzig das erste Mal Transparente gegen die DDR-Diktatur hochgehalten haben, die im Herbst 89 auf die ersten Demonstrationen gegangen sind, die nicht wussten, ob sie verhaftet werden, ob ihre Familie weiß, wo sie inhaftiert werden, diejenigen, die am 6. Oktober auf der Straße waren und nicht wussten, ob die zusammengezogenen NVA-Kräfte und Polizeieinheiten schießen werden, die hatten tatsächlich Mut. Sie haben dazu beigetragen, dass ein Volk gegen eine tatsächliche Diktatur aufgestanden ist. Wer heute ruft: „Wir sind das Volk“, dem müssen zwei Sachen klar sein: Das ist nicht wahnsinnig mutig, es ist Maulheldentum. Punkt 1.
Punkt 2 – das ist der große Irrtum, der häufig umläuft –: Es ist kein Ausdruck von eingeschränkter Meinungsfreiheit, wenn man mit seiner eigenen Position keine Mehrheit hat. In unserem Land darf man alles sagen, was nicht strafbar ist. Das ist Meinungsfreiheit, und sie schränkt niemand ein.
Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf eines hinweisen: Diese Maske, die ich trage – darauf habe ich auch gestern hingewiesen –, schützt andere Menschen. Das Tragen einer Maske ist keine Einschränkung der Meinungsfreiheit, sondern das Tragen der Maske appelliert an etwas, was unser Gemeinwesen ausmacht: Solidarität gegenüber denjenigen, die schwächer sind als wir. Aber wer die Maske mit dem gelben Stern vergleicht, wer sich als jemand, der die Maske nicht aufsetzen will, mit Anne Frank vergleicht, der trampelt auf den Gräbern derjenigen herum, die als Teil des europäischen Judentums der industriellen Vernichtung der Nationalsozialisten anheimgefallen sind.
Auch hier appelliere ich an diejenigen, die auf den Demonstrationen sind: Distanzieren Sie als Demokratinnen und Demokraten sich von denjenigen, die den Nationalsozialismus verharmlosen, die den Holocaust instrumentalisieren! Sie schlagen mit solchen Vergleichen den Überlebenden des Nationalsozialismus, den Familien, die weinend in Auschwitz stehen, um sich das Buch der Namen anzuschauen, den traumatisierten Nachfolgegenerationen ins Gesicht. Hören Sie auf damit.
Lassen Sie uns streiten über den richtigen Weg aus der Pandemie. Aber lassen Sie das Andenken an die Opfer in den Konzentrationslagern – Buchenwald bei uns in Thüringen, in Auschwitz und in vielen anderen Orten, Sachsenhausen in unserem Nachbarland Brandenburg, von Berlin aus gesehen – ruhen und instrumentalisieren Sie es nicht für Ihre billigen Zwecke!
– Vielen Dank.